Michael Wrase, 43, ist seit einem Jahr Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Es handelt sich dabei um eine fünfjährige Gastprofessur, die auf einer Kooperation zwischen der Universität und dem WZB beruht. Die Forschungsschwerpunkte von Professor Michael Wrase liegen in den Bereichen Verfassungsrecht, Bildungsrecht, Sozialrecht, Antidiskriminierungsrecht und Rechtssoziologie. Er befasst sich zum Beispiel mit dem Recht auf Bildung als Herausforderung für das deutsche Sozial- und Bildungssystem.
In der Lehre liegen die Schwerpunkte im Bildungsrecht, dem Sozialrecht und den Grundlagen des Sozialstaats. Im Wintersemester 2017/18 und im Sommersemester 2018 lehrt Michael Wrase unter anderem in der Hildesheimer Vorlesung „Einführung in das Bildungsrecht“. Die Studentinnen und Studenten, unter anderem aus der Sozialpädagogik sowie dem Lehramt, befassen sich mit rechtlichen Fragen des Bildungswesens, mit internationalen, menschenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen, mit dem Erziehungsrecht und staatlichen Bildungsauftrag sowie mit Schulgesetzen. Die Vorlesung trägt dazu bei, dass die Studierenden eine Grundqualifikation erhalten und sie lernen, mit Rechtstexten umzugehen.
Interview mit Prof. Dr. Michael Wrase
„Man muss sich Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung genau anschauen“
Sie sind Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim und forschen auch am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Was macht man eigentlich als Professor für Bildungsrecht? Worum geht es in Ihrem Beruf?
Michael Wrase: In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit Rechtsfragen in Bildungsinstitutionen, vor allem Schule und Kita. Da hat das Recht eine große Bedeutung, weil es den Handlungsrahmen für die Arbeit von Pädagog_innen setzt und auf der anderen Seite auch Rechte von Schüler_innen und Eltern definiert. Und es ist das zentrale Steuerungsmittel, um Bildungsorganisationen und Bildungsprozesse zu gestalten.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
In Nordrhein-Westfalen wollte die frühere rot-grüne Landesregierung einen inklusiven Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung an den Regeschulen einführen. Dafür hat man das Schulgesetz geändert. Aber leider nicht sehr klug. Am Ende steht im Gesetz jetzt ein Vorrang für die inklusive Beschulung. Tatsächlich aber steigen, die Quoten von Kindern an Förderschulen, das ganze kostet eine Menge Geld und in der Öffentlichkeit hat die Inklusion ein sehr negatives Image bekommen – das war ein großes Thema im Wahlkampf, das Rot-Grün geschadet hat. Da ist einiges schief gelaufen. Man muss sich also die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung genau anschauen. Das mache ich in meiner Forschung, die auch einen Schwerpunkt in der Rechtssoziologie, das heißt der Forschung zur tatsächlichen Umsetzung und Praxis des Rechts (law in action), hat.
Was sind weitere Themen, mit denen Sie sich als Professor für Bildungsrecht beschäftigen?
In meiner Forschung geht es um menschen- und verfassungsrechtliche Fragen. Was ist, wenn Kinder unterschiedliche Chancen zum Beispiel auf den Zugang zu Bildungseinrichtungen haben? Wann liegt eine Diskriminierung im Rechtssinn vor? Welche völkerrechtlichen Vorgaben müssen für die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen beachtet werden? Wie ist ein inklusives Schulsystem nach der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen?
Ein wichtiger Teil meiner Professur ist die Verbindung zwischen Bildungs- und Sozialrecht. Eigentlich muss das viel mehr zusammen gedacht werden. Denn Armut hat sehr viel mit dem Bildungsstand der Betroffenen zu tun. In Deutschland haben wir eine extrem hohe Bildungs- und damit auch Armutsvererbung. Wir haben ein Grundsicherungsrecht, das die Armut nur verwaltet und die Betroffenen auch noch sanktioniert. In Großstädten wie Berlin kommen über 30 Prozent aller Kinder aus solchen Familien, auch in Niedersachsen ist der Anteil hoch. Hier müsste viel mehr für die Bildung und (Weiter-)Qualifizierung getan werden. Die Bildungs- und Teilhabeleistungen für junge Menschen sind aber weitgehend ineffektiv. In meiner Forschung versuche ich, an dieser Stelle anzusetzen, die einen Schnittpunkt zum Kinder- und Jugendhilferecht hat.
Warum haben Sie sich für Hildesheim als Ort Ihrer Forschung und Lehre entschieden?
Die Universität Hildesheim hat ja ihren Schwerpunkt im Bereich Bildung und Pädagogik. Am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik gibt es schon seit langem eine Professur für Recht der sozialen Dienstleistungen von meiner Kollegin Kirsten Scheiwe. Damit hat das Recht hier einen deutlichen Stellenwert in der pädagogischen Ausbildung, aber auch in der Forschung. Das wird auch nach außen wahrgenommen. Insofern ergänzt sich das sehr gut. Meine Professur hat die Besonderheit, dass sie auf einer Kooperation mit dem WZB als außeruniversitärer Forschungseinrichtung beruht, wo ich als Research Fellow arbeite. Am WZB machen wir vor allem Forschung zu strukturellen Fragen von Bildung und Sozialpolitik. Und genau auf der Schnittstelle zwischen diesen strukturellen und den bildungsorganisatorischen Fragen liegt mein Arbeitsschwerpunkt, insofern gefällt mir das sehr gut.
Welche Forschungsfrage steht aktuell im Mittelpunkt Ihrer Arbeit, welchem Problem sind Sie auf der Spur?
Ganz konkret schreibe ich gerade einen Beitrag für die Bertelsmann-Stiftung. Darin geht es um die Regulierung kultureller Vielfalt, also zum Beispiel um die Frage, ob auch muslimische Organisationen das Recht haben, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anzubieten.
Im zu Ende gehenden Jahr haben unsere Studien zur sozialen Selektivität von Privatschulen viel Zeit in Anspruch genommen. Zusammen mit einem Kollegen vom WZB und einer Kollegin von der Humboldt-Universität haben wir uns die soziale Zusammensetzung und die Entwicklung an den freien Schulen sehr genau angeschaut und analysiert. Wir haben festgestellt dass die Vorgaben des Grundgesetzes zur allgemeinen Zugänglichkeit der Privatschulen „unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern“ weder ausreichend in Gesetzen konkretisiert noch von den zuständigen Behörden in der Praxis effektiv kontrolliert werden. Die Studien sind auch in der Öffentlichkeit relativ breit wahrgenommen worden. Der Landesgesetzgeber in Baden-Württemberg hat dann wesentliche Empfehlungen aus unserer Forschung in seinem Privatschulgesetz umgesetzt. Das Land Berlin plant jetzt Vorschriften, die das System der Finanzierung und Kontrolle freier Schulen auf eine neue Grundlage stellen sollen. Es geht darum, den einkommensunabhängigen Zugang und eine bessere soziale Durchmischung an den Privatschulen zu gewährleisten. Auch hier in Niedersachsen steht in der jetzigen Legislaturperiode eine Neuregelung an. Insofern wird uns das Thema zweifellos noch beschäftigen.
Zusammen mit Kolleg_innen arbeite ich gerade an Fragen der Schulaufsicht und der Steuerung von Bildungsprozessen. Und natürlich die Umsetzung der Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention. Nicht sehr geglückt sind da zum Beispiel die Regelungen zur Schulbegleitung, die auf der Schnittstelle zwischen Sozialhilfe-, Kinder- und Jugendhilferecht und Schulrecht in der Praxis zu großen Problemen führen. Das will ich mir genauer anschauen und alternative Regulierungsmodelle erarbeiten. Außerdem verfasse ich ein Rechtsgutachten, wo es um die geplante Verlagerung der beruflichen Bildung vom Kultus- an das Wirtschaftsministerium in Schleswig-Holstein geht. Das ist bislang beispiellos und wirft eine Reihe von Rechtsfragen auf. Und ich arbeite an einem Buch zu Antidiskriminierungsrecht im internationalen Vergleich mit, das von einer Kollegin an der Universität Oxford herausgegeben wird.
Gibt es Themen, mit denen Sie zum Beispiel in der Lehre oder Forschung in die Stadt Hildesheim wirken?
Viele der genannten Themen berühren ja bildungs- und sozialpolitische Fragen, die für das Land und natürlich auch die Region von Bedeutung sind. Ganz konkret in Bezug auf Hildesheim möchte ich hier das Projektsemester erwähnen, das dieses Jahr zum ersten Mal im Studiengang Sozial- und Organisationspädagogik durchgeführt wird. Hier entwickeln Studierende in Gruppen von fünf oder sechs Personen eigenständig Projekte, die sie während des Semesters durchführen. Sie müssen dafür eine Idee entwickeln, einen Projektantrag schreiben, sich Kooperationspartner_innen in der Region suchen, das Projekt möglichst eigenständig durchführen und am Ende einen Abschlussbericht verfassen. Begleitet wird das ganze durch Basisseminare, Fortbildungen und ein Mentoriat. Ich fand die Idee gleich wunderbar, dass die Studierenden hier etwas Eigenes entwickeln und umsetzen können, statt nur im Hörsaal zu sitzen. Da betreue ich Studierende, die Sportangebote für Jugendliche in der Region oder musikalische Angebote für geflüchtete Jugendliche anbieten. Eine andere Gruppe führt eine Aktion zugunsten der Knochenmarkspende durch und eine andere will Geschichten über Menschen in Hildesheim sammeln und daraus eine Publikation machen. Das bringt meines Erachtens für die Ausbildung eine Menge, da die Projekte wissenschaftlich reflektiert werden, und wirkt unmittelbar in die Stadt und Region.
Die Fragen stellte Isa Lange.