Wechselbad der Gefühle
Ein offener Wahlausgang in den USA, damit hatte die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Marianne Kneuer gerechnet – „aber dass es so eng werden würde, hatte ich nicht erwartet.“ Die Prognosen im Vorfeld der Wahl hatten relativ klar den Demokraten Joe Biden vorn gesehen, doch am Wahltag erwartete das amerikanische Volk ebenso wie die politischen Beobachter ein wahres Wechselbad der Gefühle.
Das amerikanische Wahlsystem birgt in sich das Kuriosum, dass am Ende nicht unbedingt die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet, sondern in 48 der 50 Bundesstaaten die Stimmen der Wahlpersonen nach dem Prinzip „the winner takes it all“ dem Kandidaten zugeschlagen werden, der in diesem Staat die Mehrheit erlangt hat. Wobei jedoch das Gewicht der Stimmen im Electoral College nicht proportional mit der Anzahl der vertretenen Einwohner übereinstimmt. In der Regel halten sich die Wahlpersonen an die Mehrheitsentscheidung in ihrem Bundesstaat, so dass nach Auszählung der Stimmen das Wahlergebnis festzustehen scheint. „Doch die formale Entscheidung über den Ausgang der Wahl durch das Electoral College fällt tatsächlich erst im Dezember“, sagt Kneuer.
Das aus dem 18. Jahrhundert stammende amerikanische Wahlsystem bezeichnet sie als anachronistisch und „demokratietheoretisch höchst problematisch“. Letztlich handelt es sich nicht um eine direkte Wahl des Präsidenten, denn das Wahlgremium entscheidet.
Auch wenn zum Zeitpunkt des Gesprächs im Verhältnis der Bürgerstimmen die beiden Kandidaten eng beieinander liegen, so heißt dies noch nichts. Dazu kommt, dass in einzelnen Bundesstaaten wie Michigan oder Wisconsin die anfängliche Mehrheit fürTrump mit zunehmendem Anteil der ausgezählten Briefwahlstimmen mehr und mehr in Richtung Biden ging.
Dass Trump sich gleich morgens früh in seinem ersten auf CNN ausgestrahlten Medienstatement als Wahlsieger ausgab; forderte, die weitere Auszählung zu stoppen und andernfalls mit rechtlichen Schritten wegen angeblichen Wahlbetrugs drohte – für Prof. Kneuer gleich vier Indizien auf einmal, dass der Noch-Amtsinhaber nicht nach demokratischen Prinzipien handelt. „Viele seiner Handlungen, vieles, was er sagt, entspricht eher autokratischen Verhaltensmustern“, so die Politikwissenschaftlerin. Und nennt als weitere Beispiele aus vier Jahren Regierungszeit: Trumps Infragestellen der Legitimität von Gouverneuren. Den Einsatz von Militär in den Bundesstaaten. Die Begrenzung der Medienfreiheit und den Ausschluss unliebsamer Medienvertreter aus der Pressekonferenz des Weißen Hauses. Sowie nicht zuletzt auch die zwar verfassungsrechtlich korrekte, aber doch gegen gängige Praktiken verstoßende, im Eilverfahren durchgepeitschte Berufung von Bundesrichterin Amy Coney Barrett.
Doch weder undemokratisches Verhalten, noch verbale Entgleisungen, nicht mal seine schlechte Performanz in der Corona-Krise haben Trump offenbar nachhaltig Stimmen gekostet. „Er hat eine klare Kernwählerschaft und weiß diese mit zugespitzten Botschaften zu mobilisieren“, stellt Kneuer fest. Auf die Frage, was sie den USA für die Zukunft wünscht, muss die Wissenschaftlerin nicht lange überlegen: „Die Abwahl von Donald Trump, weil er ein demokratieschädlicher Präsident ist“. Aber das allein, betont Kneuer, werde angesichts der bereits vorhandenen toxischen Polarisierung des Landes nicht reichen. Deshalb fügt sie ihrem Wunsch noch hinzu: „Die USA müssen zu einer neuen Kultur des Zuhörens und Miteinanders finden, um die aufgerissenen Gräben zu überwinden.“
Text: Sara Reinke
Das Gespräch mit Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Marianne Kneuer fand am Nachmittag des 4. November statt – der Ausgang der US-Wahl war zu diesem Zeitpunkt noch völlig offen.